Der Verteidigungsminister der USA Robert
S. McNamara legte laut AD am 18. September vor Vertretern der
Nachrichtenagentur UPI in San Francisco die nukleare Verteidigungpolitik
der USA dar.
McNamara sagte u. a.: "Es ist weiterhin
der Grundpfeiler unserer Strategie, dadurch vor einem absichtlichen
nuklearen Angriff auf die USA oder ihre Verbündeten abzuschrecken, daß
wir unsere höchst zuverlässige Fähigkeit erhalten, jedem einzelnen
Aggressor oder jeder Gruppe von Aggressoren zu jeder Zeit während eines
nuklearen Schlagabtausches -
selbst nachdem wir einen ersten
Überraschungsschlag absorbiert haben -
ein unannehmbares Maß an Schaden zuzufügen.
Das kann als unsere ,garantierte Zerstörungskapazität' (assured
destruction capability) definiert werden. Man muß also zunächst
begreifen, daß die garantierte Zerstörung der eigentliche Kernpunkt der
gesamten Abschreckungskonzeption ist. Wir müssen über eine tatsächliche
garantierte Zerstörungskapazität verfügen, und diese tatsächliche
garantierte Zerstörungskapazität muß auch glaubwürdig sein. Es wäre
denkbar, daß unsere garantierte Zerstörungskapazität zwar tatsächlich,
aber nicht glaubwürdig wäre-in welchem Falle sie wahrscheinlich einen
Aggressor nicht abschrecken würde. Worauf es ankommt, ist, daß ein
potentieller Aggressor zu der Überzeugung gelangt, daß unsere
garantierte Zerstörungskapazität ohne Zweifel tatsächlich vorhanden ist
und daß wir in unserer Entschlossenheit, sie als Vergeltung für einen
Angriff auch einzusetzen, niemals schwanken werden. Die Folgerung daraus
ist also klar: Wenn die USA vor einem nuklearen Angriff auf sich selbst
oder auf ihre Verbündeten abschrecken wollen, dann müssen sie über eine
tatsächliche und auch glaubwürdige garantierte Zerstörungskapazität
verfügen. Wenn wir Kalkulationen über die von uns benötigte Macht
anstellen, dann müssen wir in allen diesen Berechnungen sowohl
hinsichtlich der Möglichkeiten als auch der Absichten eines potentiellen
Aggressors ,konservativ' sein. Sicherheit hängt davon ab, daß man einen
,schlimmstmöglichen Fall' annimmt -- und über die Fähigkeit verfügt,
mit dieser Möglichkeit fertig zu werden. In einem solchen Eventualfall
müssen wir in der Lage sein, einmal die ganze Schwere eines nuklearen
Angriffs auf unser Land -- auf unsere Vergeltungskräfte, unseren
Kommando- und Kontrollapparat, unsere Industriekapazität, unsere Städte
und unsere Bevölkerung -- zu absorbieren und zum anderen den Angreifer
mit allem Nachdruck so weit zu vernichten, daß seine Gesellschaft in dem
Sinne, wie wir es im 20. Jahrhundert verstehen, nicht mehr länger
lebensfähig ist. Das also bedeutet Abschreckung vor einer nuklearen
Aggression. Es bedeutet den sicheren Selbstmord für den Aggressor --
nicht nur für seine Streitkräfte sondern auch für seine Gesellschaft
als Ganzes.
Wollen wir uns nun einem anderen Begriff
zuwenden: Der Erstschlag-Kapazität (first strike capability). Das ist an
sich schon ein zweideutiger Begriff, da damit zunächst einfach die
Fähigkeit eines Landes gemeint sein kann, ein anderes Land mit nuklearen
Kräften zuerst anzugreifen. Im üblichen Sprachgebrauch bedeutet er
jedoch weitaus mehr, nämlich die praktische Eliminierung der
Vergeltungsstreitkräfte des angegriffenen Landes zur Führung des zweiten
Schlages. In diesem Sinne muß die ,Erstschlag-Kapazität' verstanden
werden. Ganz ohne Zweifel ist also diese Fähigkeit zur Führung des
ersten Schlages eine bedeutsame strategische Konzeption. Die USA können
und werden es niemals zulassen, daß sie in eine Situation geraten, in der
ein anderes Land -- oder eine Gruppe von Ländern -- über eine solche
Erstschlag-Kapazität verfügen würden, die sie wirksam gegen die USA
einsetzen könnten. Gerieten wir gegenüber einer Nation oder Nationen in
eine solche Situation, dann würde das nicht nur eine unerträgliche
Bedrohung für unsere Sicherheit bedeuten, sondern es würde uns auch ohne
Zweifel die Fähigkeit nehmen, vor einer nuklearen Aggression gegen uns
selbst wie auch gegen unsere Verbündeten abzuschrecken... Unsere
strategischen Offensivkräfte sind gewaltig: 1 000
Minuteman-Trägerraketen, sorgfältig in unterirdischen Stellungen
geschützt; 41 Polarisunterseebote mit 656 Trägerraketen -- wobei die
Mehrzahl dieser Boote zu jeder Zeit unter der Meeresoberfläche verborgen
ist -- und etwa 600 Langstreckenbomber, von denen sich annähernd 40 %
ständig in einer hohen Alarmstufe befinden. Unsere Alarmstreitkräfte
allein können über 2 200 Atomwaffen von jeweils durchschnittlich mehr
als einer Megatonne tragen. Schon 400 Waffen von je einer Megatonne
würden -
sollten sie gegen die Sowjetunion eingesetzt
werden -- genügen, um ein Drittel der Bevölkerung und die Hälfte der
sowjetischen Industrie zu vernichten. Und all diese flexiblen und überaus
verläßlichen Waffen sind so ausgerüstet, daß sie das sowjetische
Verteidigungssystem garantiert durchdringen können. Wie steht es nun mit
der Sowjetunion? Verfügt sie heute über ein machtvolles Nukleararsenal?
Die Antwort ist: Ja. Verfügt sie über die Erstschlag-Kapazität gegen
die USA? Die Antwort ist: Nein. Kann die Sowjetunion in absehbarer Zukunft
eine solche Erstschlag-Kapazität erlangen? Die Antwort darauf ist
ebenfalls: Nein. Sie kann es nicht, weil wir entschlossen sind, in jeder
Beziehung auf der Hut zu bleiben, und wir werden es niemals zulassen, daß
unsere garantierte Zerstörungskapazität auf einem Punkt angelangen
könnte, an dem eine solche sowjetische Erstschlag-Kapazität auch nur
entfernt möglich wäre. Versucht die Sowjetunion ernsthaft, eine
Erstschlag-Kapazität gegen die USA zu erlangen? Obwohl dies eine Frage
ist, die wir nicht mit absoluter Sicherheit beantworten können, so
glauben wir doch, daß die Antwort ,Nein' ist. Auf jeden Fall ist die
Frage an sich, wenn man so will, irrelevant. Sie ist deshalb irrelevant,
weil die USA weiterhin ihre Vergeltungsstreitkräfte in einem Umfang
aufrechterhalten -- und, wenn notwendig, verstärken werden --, daß wir
bei allen nur möglichen Absichten und Maßnahmen der Sowjetunion auch in
Zukunft über eine garantierte Zerstörungskapazität gegenüber ihrer
Gesellschaft verfügen werden, auf die wir uns absolut verlassen können.
Aber es gibt eine andere Frage, die überaus relevant ist, und diese Frage
lautet: Verfügen wir -- die USA --über eine Erstschlag-Kapazität gegen
die Sowjetunion? Die Antwort ist: Nein. Sie lautet nicht deshalb nein,
weil wir etwa unsere nukleare Stärke vernachlässigt hätten. Im
Gegenteil, wir haben sie so weit verstärkt, daß wir eine klare
Überlegenheit gegenüber der Sowjetunion besitzen.
Wir verfügen aus demselben Grunde nicht
über die Erstschlag-Kapazität gegen die Sowjetunion, aus dem es der
Sowjetunion uns gegenüber an dieser Kapazität mangelt. Und dieser Grund
ist, daß wir Beide unsere ,Zweitschlag-Kapazität'<1> (second
strike capability) so weit ausgebaut haben, daß eine
Erstschlag-Kapazität auf der einen oder anderen Seite unerreichbar
geworden ist. Es gibt selbstverständlich keine Mittel und Wege, mit denen
die USA die Sowjetunion daran hätten hindern können, ihre gegenwärtige
Zweitschlag-Kapazität zu erlangen-es sei denn, wir hätten in den
fünfziger Jahren einen präventiven ersten Schlag gegen die Sowjetunion
geführt. Es ist also eine nackte Tatsache, daß weder die Sowjetunion
noch die USA den anderen angreifen können, ohne durch einen
Vergeltungsschlag zerstört zu werden. Genau so kann keiner von uns in
absehbarer Zukunft eine Erstschlag-Kapazität erlangen. Es ist ferner eine
Tatsache, daß sowohl die Sowjetunion als auch die USA gegenwärtig über
eine tatsächliche und glaubwürdige Zweitschlag-Kapazität gegeneinander
verfügen -- und es ist diese gegenseitige Kapazität, die uns Beiden das
überzeugendste Motiv dafür gibt, einen Atomkrieg zu vermeiden. Die
Frage, die in diesem Zusammenhang häufiger gestellt wird, ist, ob die USA
der Sowjetunion nuklear überlegen sind oder nicht. Die Antwort lautet:
Das ist der Fall. Aber wie alles andere in dieser Angelegenheit ist diese
Antwort technisch kompliziert. Die Schwierigkeit resultiert zum Teil aus
der Frage, welcher Maßstab hinsichtlich der Überlegenheit sinnvoll und
realistisch ist. Viele Kommentatoren, die sich mit dieser Frage befassen,
neigen dazu, die nukleare Überlegenheit nach der Brutto-Megatonnage oder
nach der Anzahl der verfügbaren Trägerraketen zu definieren. Nach diesen
beiden Bemessungsnormen besitzen die USA tatsächlich eine erhebliche
Überlegenheit über die Sowjetunion hinsichtlich der aufeinander
gerichteten Waffen. Aber gerade diese beiden Bemessungsnormen sind im
Grunde irreführend. Die sinnvollste und realistischste Bemessung der
nuklearen Kapazität ist weder die Brutto-Megatonne noch die Anzahl der
verfügbaren Trägerraketen, sondern vielmehr die Zahl der verschiedenen
Sprengköpfe, die mit Genauigkeit Vorrangziele treffen können -- und zwar
mit genügender Kraft, um diese Ziele zu zerstören. Die Brutto-Megatonne
ist ein unzureichender Indikator hinsichtlich der garantierten
Zerstörungskapazität, da sie in keiner Beziehung zur
Überlebensfähigkeit, zur Genauigkeit oder zur Durchdringungsfähigkeit
und kaum in Beziehung zur Vernichtung der vielfältigen Vorrangziele
steht. Es liegt auf der Hand, daß kein Vorteil darin liegen kann, auf ein
Ziel mehr einzusetzen als zu seiner Zerstörung nötig ist, wenn dafür
andere Ziele von gleicher Wichtigkeit unzerstört bleiben. Weiter ist auch
die Zahl der verfügbaren Trägerraketen ebenso kein ausreichender
Indikator für die garantierte Zerstörungskapazität, denn in
Wirklichkeit werden zahlreiche unserer Trägerraketen mehrere Sprengköpfe
mit sich führen. Legt man jedoch als realistischen Maßstab die Zahl der
verfügbaren Sprengköpfe zugrunde, die zuverlässig mit Genauigkeit und
Wirksamkeit in die entsprechenden Ziele in den USA und in der Sowjetunion
gebracht werden können, so kann ich Ihnen sagen, daß die USA
gegenwärtig gegenüber der Sowjetunion eine Überlegenheit von wenigstens
3 oder 4 zu 1 besitzen...
Es ist wichtig, zu begreifen, daß unsere
nuklearen strategischen Streitkräfte eine entscheidend wichtige und
absolut notwendige Rolle für unsere Sicherheit und die unserer
Verbündeten spielen. Doch es handelt sich um eine wesentlich begrenzte
Rolle. Daher müssen wir und unsere Verbündeten beträchtliche
konventionelle Streitkräfte unterhalten, die mit einer Vielzahl
untergeordneter Formen von Aggressionen fertig werden können --
Aggressionen eines Ausmaßes, bei dem der Einsatz strategischer nuklearer
Streitkräfte nicht zu unserem Vorteil gereichen würde, Aggressionen
also, gegen die diese strategischen nuklearen Streitkräfte selbst keine
wirksame Abschreckung darstellen können. Man kann durch eine
unglaubwürdige Handlung keine glaubwürdige Abschreckung schaffen. Für
die USA und ihre Verbündeten kann daher Sicherheit nur aus dem Besitz
eines ganzen Bereichs abgestufter Abschreckungen erwachsen, von denen jede
in sich selbst voll glaubwürdig ist... Wir wollen kein nukleares
Wettrüsten mit der Sowjetunion -- vor allem, weil schon das Prinzip von
Aktion und Reaktion ein solches Verhalten als wahnwitzig und vergeblich
ausweisen würde. Sollte aber die einzige Möglichkeit, die Sowjetunion an
der Erlangung der Erstschlag-Kapazität zu hindern, darin bestehen, uns in
ein solches Wettrüsten einzulassen, dann besitzen die USA die dazu
erforderlichen Hilfsquellen in überreiehem Maße sowie auch die
Technologie und den Willen, in diesem Rennen auf jede geforderte Distanz
schneller zu sein. Wir würden es allerdings vorziehen, mit der
Sowjetunion zu einem realistischen und einigermaßen risikolosen
Übereinkommen zu gelangen, das ein solches Wettrüsten wirksam unterbin
den könnte. Wir haben beide ein Arsenal von strategischen Nuklearwaffen
angesammelt, das weit über eine glaubwürdige, garantierte
Zerstörungskapazität hinausgeht. Diese Arsenale haben auf beiden Seiten
aus genau dem gleichen Grund ein Übermaß erreicht: Wir beide haben auf
den nuklearen Aufbau der Gegenseite mit sehr konservativen Berechnungen
reagiert. Wir haben, wie die Dinge liegen, beide ein größeres Arsenal
aufgebaut, als jeder von uns für die Führung eines Gegenschlags
benötigt, einfach deshalb weil wir beide selbst den schlimmsten denkbaren
Fall einkalkulieren mußten. Da wir aber nun beide eine Abschreckungsmacht
besitzen, die über unsere eigenen Bedürfnisse hinausgeht, würden unsere
beiden Länder von einem mit entsprechenden Sicherheitsvorkehrungen
ausgestatteten Übereinkommen profitieren, unser offensives und defensives
strategisches Nuklearpotential zuerst zu begrenzen und später zu
verringern... Ob ein offizielles Abkommen zustande kommt oder nicht,
dessen können wir sicher sein: Weder die Sowjets noch wir werden das
Risiko eingehen, daß die andere Seite die Erstschlag-Kapazität erlangt.
Ganz im Gegenteil, wir können sicher sein, daß wir beide uns die
allergrößte Mühe geben werden, um die garantierte
Zerstörungskapazität sicherzustellen. Es wäre für keine der beiden
Seiten vernünftig, maximale Anstrengungen zur Erlangung der
Erstschlag-Kapazität zu unternehmen. Es wäre unvernünftig, weil die
Fähigkeit beider Seiten, Geheiminformationen zu sammeln, soweit
vervollkommnet ist, und weil die Realitäten der Anlaufzeit (lead-time)
-der Frist also, die zwischen einem technischen Durchbruch und der
operativen Einsatzfähigkeit vergeht -- dem entgegenstehen. Keiner von uns
wäre in der Lage, die Erstschlag-Kapazität insgeheim zu erringen. Ich
möchte einen besonderen Fall herausgreifen. Die Sowjets bauen
gegenwärtig ein Raketenabwehrsystem (anti-ballistic missile system / ABM)
auf. Wenn wir darauf klug und vernünftig reagieren, haben wir keinen
Grund zur Beunruhigung. Dieses System bringt keinerlei Bedrohung unserer
Fähigkeit mit sich, es zu durchdringen und der Sowjetunion massiven und
unannehmbaren Schaden zuzufügen. Mit anderen Worten, es berührt zum
gegenwärtigen Zeitpunkt unsere garantierte Zerstörungskapazität nicht
wesentlich. Es bringt keine derartige Bedrohung mit sich, weil wir bereits
die notwendigen Maßnahmen ergriffen haben, um sicherzustellen daß unsere
auf dem Lande stationierten Minuteman-Raketen, unsere von Unterseeboten
abgeschossenen Poseidon-Raketen und unsere strategische Bomberflotte über
die erforderlichen Durchdringungshilfen (penetration aids) verfügen und
alles in allem eine Streitmacht von solch gewaltiger Größe darstellen,
daß uns damit eine Macht garantiert wird, die stark genug ist, um einen
sowjetischen Angriff zu überleben und das sowjetische Raketenabwehrsystem
zu durchdringen.
Lassen Sie mich nunmehr zu dem Punkt kommen,
der in letzter Zeit so viel Aufmerksamkeit gefunden hat, zu der Frage
nämlich, ob wir ein Raketenabwehrsystem gegen die sowjetische nukleare
Bedrohung aufbauen sollten oder nicht. Zu Anfang möchte ich sagen, daß
es sich hierbei in keiner Weise um eine neue Frage handelt. Seit dem Ende
der fünfziger Jahre haben wir die technische Möglichkeit sowie die
strategische Wünschbarkeit eines amerikanischen Raketenabwehrsystems
ständig überprüft. Wenn wir unsere Technik auf diesem Gebiet auch
wesentlich verbessert haben, so ist es doch wichtig, zu erkennen, daß
beim gegenwärtigen oder absehbaren Stand der Entwicklung keines dieser
Systeme einen undurchdringbaren Schutzschild um die USA legen würde.
Wäre ein solcher Schild möglich, würden wir ihn ohne Frage haben wollen
und ihn auch ohne Frage errichten. An diesem Punkt möchte ich einen alten
Einwand entkräften, der in diesem Zusammenhang völlig irrelevant ist.
Man hat behauptet, wir wären gegen den Aufbau eines ABM-Systems, weil
sich die Kosten auf 40 Mrd. $ belaufen würden. Lassen Sie mich
klarstellen, daß es nicht um die 40 Mrd. $ geht. Wenn wir einen wahrhaft
undurchdringlichen Schild entwickeln und über den USA entrichten
könnten, wären wir bereit, nicht nur 40 Mrd. $ sondern jedes vertretbare
und notwendig Vielfache dieses Betrags aufzubringen. Nicht Geld als
solches, sondern die Durchdringbarkeit des vorgeschlagenen Schildes ist
das Problem. Es ist aber ganz eindeutig sinnlos, 40 Mrd. $ auszugeben,
wenn wir dafür nicht eine wesentliche Erhöhung unserer Sicherheit
einhandeln. Ist dies nicht der Fall, dann sollten wir diese
beträchtlichen Mittel auf etwas verwenden, was diesen Zweck erfüllt.
Jedes im gegenwärtigen Augenblick realisierbare ABM-System beruht darauf,
Abwehrraketen auf anfliegende Sprengkopfträger in dem Versuch abzufeuern,
diese zu vernichten. Was viele Kommentatoren in dieser Frage übersehen,
ist die Tatsache, daß jedes derartige System offensichtlich von jedem
beliebigen Gegner ausmanövriert werden kann, in dem er einfach
Sprengkopfträger oder Raketenattrappen in größerer Zahl schickt, als
Abwehrraketen zu ihrer Vernichtung zur Verfügung stehen. Das gerade ist
die Crux des Prinzips von Aktion und Reaktion im nuklearen Bereich.
Wollten wir ein über das Gebiet der USA verteiltes umfassendes ABM-System
aufbauen, so sähen sich die Sowjets mit Sicherheit veranlaßt, ihre
Offensivkräfte soweit zu verstärken, daß sie unseren Vorsprung in der
Verteidigung damit wieder zunichtemachen...
Wie Sie wissen, haben wir
amerikanisch-sowjetische Gespräche über diese Frage vorgeschlagen (siehe
13076 A). Sollten diese Gespräche fehlschlagen, so sind wir ohne weiteres
bereit, die entsprechenden Maßnahmen zu ergreifen, die ein solcher
Fehlschlag erforderlich machen würde. Was wir dabei beachten müssen ist,
daß unsere Antwort, falls die Gespräche fehlschlagen sollten -- und die
Sowjets beschließen, ihr gegenwärtiges bescheidenes Raketenabwehrsystem
zu einem massiven System auszubauen -
realistisch sein muß. Es hat keinen Zweck,
daß wir mit dem Übergang zu einem massiven Raketenabwehrsystem zum
Schutz unserer Bevölkerung antworten, wenn selbst ein solches System bei
einem sowjetischen Angriff mit hochentwickelte Waffen wirkungslos wäre.
Der Realismus erfordert vielmehr, daß wir, falls sich die Sowjets für
den Bau eines starken Raketenabwehrsystems entscheiden, unsere
hochentwickelten Angriffsstreitkräfte weiter ausbauen und uns damit
unsere überragende, garantierte Zerstörungskapazität erhalten müssen.
Falls die Gespräche fehlschlagen sollten, wäre es jedoch eine
unausweichbare Tatsache, daß die Sowjets und wir gezwungen sein würden,
einen törichten und unbesonnenen Kurs fortzusetzen. Es wäre töricht und
unbesonnen, weil er letztlich weder den Sowjets noch uns eine größere
relative nukleare Kapazität bringen würde...
Ein anderer Nutzeffekt eines
Raketenabwehrsystems, den wir ernsthaft erwägen sollten, ist der
größere Schutz unserer strategischen Offensivkräfte. Und ein weiterer
steht in Zusammenhang mit der sich entwickelnden nuklearen Kapazität des
kommunistischen China. Es gibt Beweise dafür, daß die Chinesen
beträchtliche Mittel für die Entwicklung sowohl nuklearer Sprengköpfe
wie auch der Trägersysteme aufwenden... Es sprechen alle Anzeichen
dafür, daß sie etwa innerhalb eines Jahres ballistische
Mittelstreckenraketen, zum Beginn der siebziger Jahre eine
Anfangskapazität auf dem Gebiete der ballistischen
Interkontinentalraketen und Mitte der siebziger Jahre eine bescheidene
Streitmacht besitzen werden. Bisher hat uns der Faktor der Anlaufzeit
erlaubt, eine Entscheidung darüber zu verschieben, ob der Aufbau eines
leichten Raketenabwehrsystems als Gegenmaßnahme zur nuklearen Entwicklung
des kommunistischen China vorteilhaft wäre. Aber es wird in Kürze an der
Zeit für uns sein, mit dem Aufbau zu beginnen, wenn wir ein solches
System wünschen. China ist im Augenblick von inneren Unruhen
geschüttelt; aber es hat den Anschein, daß das Grundmotiv für die
Entwicklung einer strategischen nuklearen Kapazität in dem Versuch liegt,
eine Basis für die Bedrohung seiner Nachbarn zu schaffen und sich mit dem
zweifelhaften Prestige auszustatten, das die Welt der nuklearen
Waffentechnik zuerkennt. Wir bedauern die Entwicklung dieser Waffen durch
China genau so, wie wir dies in anderen Ländern bedauern. Wir sind gegen
die nukleare Proliferation, weil wir der Überzeugung sind, daß sie am
Ende nur die Gefahr einer allgemeinen und alles vernichtenden Katastrophe
vergrößert. Präsident Johnson hat klargestellt, daß die USA allen
Versuchen Chinas entgegentreten werden, seine Nachbarn nuklear zu
erpressen (siehe 12791 A/8)... Besteht nun irgendeine Möglichkeit, daß
China Mitte der siebziger Jahre so unvorsichtig werden würde, einen
nuklearen Angriff auf die USA oder unsere Verbündeten zu versuchen? Es
wäre Irrsinn und Selbstmord, wenn es das täte, aber man kann sich
Bedingungen vorstellen, unter denen China Fehlkalkulationen anstellen
könnte. Wir möchten solche Möglichkeiten auf ein Minimum reduzieren.
Und da unsere strategische Planung, wie ich betont habe, stets konservativ
sein und selbst das eventuelle vernunftwidrige Verhalten potentieller
Gegner berücksichtigen muß, gibt es immerhin Gründe für den Schluß,
daß der Aufbau eines leichten Raketenabwehrsystems gegen diese
Möglichkeit klug wäre. -- Das System wäre relativ billig -- nach ersten
Schätzungen werden die Kosten auf etwa 5 Mrd. $ veranschlagt -- und
würde ein weitaus höheres Maß an Zuverlässigkeit gegen einen
chinesischen Angriff bieten als das massivere und kompliziertere System,
das manche Leute gegen einen möglichen sowjetischen Angriff empfohlen
haben. Darüber hinaus würde ein gegen einen etwaigen chinesischen
Angriff gerichtetes Raketenabwehrsystem eine Reihe weiterer Vorteile
bieten. Es wäre für die Asiaten ein erneuter Beweis, daß wir China vor
einer nuklearen Erpressung abschrecken wollen, und es würde damit zu
unserem Ziel beitragen, andere von einer Weitergabe nuklearer Waffen an
Nicht-Atommächte abzuhalten. Außerdem würde ein auf China
ausgerichtetes Raketenabwehrsystem es uns ermöglichen, unseren
Minuteman-Abschußbasen -- sozusagen als Begleitumstand -- einen
zusätzlichen Schutz gegen einen sowjetischen Angriff zu geben. Wir
würden also bei bescheidenen Kosten unseren offensiven
Raketenstreitkräften praktisch eine noch größere Wirksamkeit verleihen
und so einen weitaus kostspieligeren Ausbau dieser Streitkräfte vermeiden
können. Schließlich würde ein solches, einigermaßen zuverlässiges
Raketenabwehrsystem unserer Bevölkerung Schutz vor einem zwar
unwahrscheinlichen aber doch möglichen unbeabsichtigten Abschuß einer
Interkontinentalrakete seitens irgend einer der Atommächte gewähren.
Nach einer eingehenden Prüfung all dieser Gedanken haben wir beschlossen,
mit dem Bau dieses auf China ausgerichteten Raketenabwehrsystems
anzufangen, und Ende des Jahres mit der tatsächlichen Errichtung eines
solchen Systems zu beginnen... Der sogenannte große Raketenabwehrschild
würde bei dem gegenwärtigen Stand der Technik praktisch überhaupt kein
ausreichender Schutzschild gegen einen sowjetischen Angriff sondern
vielmehr für die Sowjets ein starker Anreiz sein, ihre eigenen
Offensivstreitkräfte sehr erheblich zu verstärken. Das würde, wie ich
betont habe, für uns wiederum eine Antwort notwendig machen -- und damit
würde das Wettrüsten hoffnungslos weitergehen, das für keine Seite
einem vernünftigen Zweck dienen würde. Lassen Sie mich unterstreichen --
und ich kann dies nicht nachhaltig genug tun -- daß unser Beschluß, mit
einem begrenzten Raketenabwehrsystem zu beginnen, in keiner Weise besagt,
ein Abkommen mit der Sowjetunion über die Begrenzung der strategischen
nuklearen Offensiv- und Defensivstreitkräfte sei unserer Ansicht nach
weniger dringlich oder wünschenswert."
Die amtliche Nachrichtenagentur der VR China,
Xinhua, nahm am 21. September zur Rede McNamaras Stellung.
Xinhua schrieb, der Entschluß der USA, mit
der "Aufstellung gegen China gerichteter Raketen-Abwehrraketen"
bis Ende 1967 zu beginnen, sei ein bedeutsamer Schritt des
US-Imperialismus zur Fortsetzung seiner nuklearen Erpressung und Bedrohung
Chinas, nachdem China unter Brechung des US-sowjetischen
Kernwaffenmonopols eigene Atomwaffen zur Selbstverteidigung entwickelt
habe. "Jedermann weiß, daß niemand anderes als der US-Imperialismus
selbst in der Nachkriegszeit wie rasend die Ausweitung seiner Atomrüstung
betrieben und die Kernwaffen zur Einschüchterung anderer geschwungen hat.
Deshalb ist das gegenwärtige zügellose Gerede der US-Imperialisten von
,nuklearer Vergeltung' gegen China ganz einfach und schlicht eine
Täuschung. In Wirklichkeit will man das ABM-System verwenden, um die
,nukleare Überlegenheit' Amerikas zur Schau zu stellen, damit man sich
gegenüber dem chinesischen Volke und anderen revolutionären Kräften in
der Welt ungehindert der nuklearen Erpressung und Drohung bedienen kann...
Während sie einerseits eifrig bestrebt sind, die Entwicklung der
gegeneinander gerichteten Kernwaffen zu begrenzen, unternehmen die USA und
die Sowjetunion gemeinsame Schritte zur Schaffung ihrer eigenen
Raketen-Abwehrraketensysteme gegen China. Das zeigt eindeutig, daß die
US-Imperialisten und die Sowjetrevisionisten militärisch offen gegen
China kollaborieren und daß zwischen ihnen tatsächlich eine
militärische Anti-China-Allianz besteht..."
Fußnote:
<1> Unter 'Zweitschlag-Kapazität' ist die Fähigkeit zu
verstehen, einen nuklearen Überraschungsangriff zu absorbieren und ihn
mit genügender Kraft zu überstehen, um dem Aggressor unannehmbaren
Schaden zufügen zu können.